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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 13.08.2003
Aktenzeichen: 14 A 3337/01
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO § 124 b Satz 1
Zur Frage der Berücksichtigungsfähigkeit einer nach Ablauf der Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung eingetretenen Rechtsänderung.
Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Erteilung eines Aufnahmebescheides nach dem Bundesvertriebenengesetz und der Kläger seine Einbeziehung in diesen Aufnahmebescheid.

Nachdem das Bundesverwaltungsamt ihre Anträge abgelehnt und deren Widerspruch zurückgewiesen hatten, erhoben die Kläger Klage vor dem VG. Das VG gab der Klage mit aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 28.6.2001 ergangenem Urteil statt. Es stellte fest, dass die Klägerin zwar aktuell nur schlecht deutsch spricht, gelangte aber unter Würdigung des Vorbringens der Klägerin und ihrer Cousine sowie des übrigen Akteninhalts zu der Überzeugung, dass der Klägerin bestätigende Merkmale gemäß den Anforderungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG a.F., nämlich die deutsche Sprache als Grundlage für die Weitergabe deutscher Erziehung und Kultur im Elternhaus bis zu ihrer Volljährigkeit vermittelt worden sind.

Die Beklagte beantragte fristgemäß die Zulassung der Berufung und machte ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend. Zur Begründung berief sie sich darauf, dass der vom VG angenommene Sprachverlust nicht nachvollziehbar sei. Davon abgesehen sei zu berücksichtigen, dass die Voraussetzungen der bevorstehenden Neufassung des § 6 Abs. 2 BVFG nicht vorlägen.

Durch das Spätaussiedlerstatusgesetz vom 30.8.2001 wurde § 6 Abs. 2 BVFG umgestaltet. Die Änderung trat am 7.9.2001 in Kraft.

Der Senat legte die Sache dem BVerwG zur Entscheidung über die Rechtsfrage vor, ob eine nach Ablauf der Frist zur Begründung des Antrages auf Zulassung der Berufung eingetretene Rechtsänderung bei der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen ist.

Gründe:

§ 124 b Satz 1 VwGO i. d. F. des Art. 1 Nr. 15 des am 1.1.2002 in Kraft getretenen Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG) vom 20.12.2001 (BGBl. I S. 3987) begründet ohne Unterscheidung nach "Alt"- und "Neu"-Verfahren (vgl. hierzu BT-Drucks. 14/6854, S. 5 und 10, zu BT-Drucks. 14/6393 - GE und Begr. der BReg. - und BT-Drucks. 14/7744, S. 2) eine Vorlagepflicht des Oberverwaltungsgerichts zur Entscheidung über die Auslegung von § 124 Abs. 2 oder § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO, wenn

1. die Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung für die Auslegung dieser Bestimmung hat oder

2. die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Auslegung dieser Bestimmung erfordert.

Die Voraussetzungen dieser Regelung liegen vor.

Der Zulassungsantrag wirft die Rechtsfrage auf, ob bei der Entscheidung des Senats über den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO eine nach Ablauf der Begründungsfrist eingetretene Rechtsänderung zu berücksichtigen ist.

Die Rechtsfrage, ob überhaupt eine Rechtsänderung, die erst nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils eintritt, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO begründen kann, wird in Rechtsprechung und Kommentierung unterschiedlich beantwortet.

Zum Teil wird die Berücksichtigung einer solchen Rechtsänderung abgelehnt; vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 15.7.1997 - 1 S 1640/97 -, NVwZ 1998, 199; Bay.VGH, Beschluss vom 28.9.2000 - 1 ZB 00.2488 -, NVwZ-RR 2001, 117; Hess.VGH, Beschluss vom 23.4.2001 - 8 UZ 3098/00 -, NVwZ-RR 2002, 235; OVG NRW, Beschluss vom 5.11.1999 - 15 A 2923/99 -, NVwZ 2000, 334; zum einstweiligen Rechtsschutz: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.9.1999 - 7 S 1871/99 -, NVwZ-RR 2000, 551; Hess.VGH, Beschluss vom 26.3.1998 - 6 TZ 4017/97 -, DVBl. 1998, 1033; Sächs.OVG, Beschluss vom 2.3.1999 - 2 S 200/98 -, NVwZ-RR 2000, 124; Bader, in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, 2. Aufl., § 124, Rdnr. 27; zum Teil als zulässig erachtet.

Vgl. Hess.VGH, Beschluss vom 10.11.1999 - 5 UZ 2876/99 -, NVwZ 2000, 85; Nds. OVG, Beschluss vom 3.11.1998 - 9 L 5136/97 -, DVBl 1999, 476; in der Tendenz wohl: OVG NRW, Beschluss vom 12.1.1998 - 10 A 4078/97 -, NVwZ 1998, 754; OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 16.2.1998 - 2 A 11966/97 -, NVwZ 1998, 1094; OVG Sch.-H., Beschluss vom 14.10.1999 - 4 L 83/99 - NordÖR 2000, 293; zum einstweiligen Rechtsschutz: OVG Hbg., Beschluss vom 17.2.1998 - Bs VI 105/97 -, NVwZ 1998, 863; Thür. OVG, Beschluss vom 13.3.1998 - 2 ZEO 348/98 - 2 EO 343/98 -, DVBl. 1998, 849; Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 124, Rdnr. 7 c; Meyer-Ladewig, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 124, Rdnr. 26 l; Seibert, in: Sodan/Ziekow, Nomos-Kommentar zur VwGO, § 124, Rdnrn. 136 ff; Redeker/von Oertzen, VwGO, 13. Aufl., § 124, Rdnr. 15 c; zu nachträglich eingetretenen Tatsachen: BVerwG, Beschluss vom 12.11.2002, 7 AV 4/02.

Folgt man der letzteren Auffassung, stellt sich die Frage, ob die Rechtsänderung innerhalb der Begründungsfrist eingetreten sein muss, vgl. Hess.VGH, Beschluss vom 10.11.1999 - a.a.O., Nds. OVG, Beschluss vom 3.11.1998, a.a.O.; OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 16.2.1998, a.a.O.; OVG Schl.-H., Beschluss vom 14.10.1999, a.a.O.; Seibert, in: Sodan/Ziekow, a.a.O., Rdnr. 142, oder ob auch eine erst nach Ablauf der Begründungsfrist eingetretene Rechtsänderung zu berücksichtigen ist.

Vgl. in der Tendenz wohl: OVG NRW, Beschluss vom 12.1.1998, a.a.O.; Happ, in: Eyermann, VwGO, 11. Aufl., Rdnr. 62.

Mit Rücksicht auf diesen Meinungsstand besitzt die aufgeworfene Frage, die der Senat bislang noch nicht zu entscheiden hatte, grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 b Satz 1 Nr. 1 VwGO für die Auslegung des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Sie ist eine für die Zulassungsentscheidung klärungsbedürftige, höchst- bzw. obergerichtlich nicht (hinreichend) geklärte Rechtsfrage allgemeiner, fallübergreifender Bedeutung. Sie bedarf außerdem im Sinne der zweiten Alternative des § 124 b Satz 1 Nr. 2 VwGO zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der Entscheidung durch das BVerwG.

Die Vorlagefrage ist für die Entscheidung über den Zulassungsantrag der Beklagten entscheidungserheblich.

Wäre das Bundesvertriebenengesetz in der Fassung des Spätaussiedlerstatusgesetzes (BVFG n.F.) zu berücksichtigen, so wären ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO an der entscheidungstragenden Beurteilung des VG geweckt, der Klägerin seien - hinreichend - bestätigende Merkmale hinsichtlich einer deutschen Volkszugehörigkeit vermittelt worden. Denn gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG n.F. muss das Bekenntnis zum deutschen Volkstum oder die rechtliche Zuordnung zur deutschen Nation bestätigt werden durch die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache. Diese ist gemäß § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG n.F. nur festgestellt, wenn jemand im Zeitpunkt der Aussiedlung aufgrund dieser Vermittlung zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen kann. Dies lässt sich nicht feststellen. Das VG hat im erstinstanzlichen Urteil ausgeführt, bei der Anhörung in Taschkent im Oktober 1998 habe die Klägerin die ihr auf Hochdeutsch gestellten Fragen zum Teil nicht verstanden und auch auf in russischer Sprache gestellte Fragen nicht in vollständigen deutschen Sätzen, sondern nur bruchstückhaft mit deutschen Wörtern geantwortet. Anhaltspunkte, die zur Annahme nötigen könnten, die Fähigkeiten der Klägerin reichten dennoch für ein einfaches Gespräch aus, sind nicht ersichtlich, selbst wenn man Einschränkungen aufgrund der von ihr geltend gemachten Erkrankung in Rechnung stellt.

Die Änderung des Bundesvertriebenengesetzes wäre auch nach ständiger Rechtsprechung bei der Entscheidung des Senats über die Berufung der Beklagten nach Zulassung durch den Senat zu berücksichtigen.

Vgl. zu Rechtsänderungen während eines laufenden vertriebenenrechtlichen Verfahrens: BVerwG, Urteil vom 29.8.1995 - 9 C 391.94 -, BVerwGE 99, 133, und vom 29.3.2001 - 5 C 17.00 -, BVerwGE 114, 116, und Beschluss vom 7.3.2002 - 5 B 60.01 -.

Die weiteren Ausführungen im Rahmen der Begründung des Zulassungsantrages würden demgegenüber ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils nicht begründen. Denn insoweit fehlt es an einer hinreichenden Darlegung durch die Beklagte. Unter Wiedergabe der Rechtsprechung des BVerwG zur damaligen Rechtslage ist das VG von einer hinreichenden familiären Vermittlung der deutschen Sprache an die Klägerin ausgegangen. Dabei hat es insbesondere die fehlenden heutigen Sprachkenntnisse der Klägerin nicht als Indiz gegen eine frühere Vermittlung angesehen. Zur Begründung hat es sich auf den Zeitablauf von mehr als 40 Jahren seit der Beendigung des familiären Erziehungseinflusses bzw. mehr als 30 Jahren seit Beendigung der Möglichkeit berufen, mit dem 1966 verstorbenen Vater Deutsch zu sprechen. Hinzu komme, dass die Klägerin an einer gesundheitlichen Beeinträchtigung leide, die ohne weiteres zu einer Einschränkung der Gedächtnisleistung beitragen könne. Wenn sich die Beklagte demgegenüber im Rahmen der Begründung des Zulassungsantrages darauf beruft, eine gefestigte, bis zum 30. Lebensjahr erworbene Sprachkompetenz gehe auch in Jahrzehnten des Nichtgebrauchs nicht soweit zurück, dass ein einfaches Gespräch nicht mehr möglich sei, handelt es sich lediglich um eine unsubstantiierte Behauptung, die sie der Auffassung des VG entgegensetzt. Daran ändern auch die von ihr geltend gemachten sporadischen Kontakte der Klägerin zu Verwandten nichts. Aus welchen Gründen im Übrigen die Fähigkeit der Klägerin, sich trotz ihrer Krankheit in Russisch, also in ihrer heutigen Umgangssprache, zu verständigen, berechtigte Rückschlüsse gegen eine weit zurückliegende familiäre Vermittlung der deutschen Sprache ermöglicht, ist nicht substantiiert dargelegt.

Ende der Entscheidung

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